Komm, ich erzähl Dir eine Geschichte

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Jorge Bucay, „Komm ich erzähl dir eine Geschichte“, Ammann Verlag

„Das Leben ist eine ziemlich komplizierte Angelegenheit. Es gibt für alles eine Erklärung. Und schwierige Sachen erklärt man am besten – mit Geschichten“, sagt Jorge, der Psychotherapeut.

Ich erzähle Ihnen heute seine Geschichte vom „Kreis der neunundneunzig“:

Es war einmal ein König, der sehr unglücklich war.

Er hatte einen Diener, der sehr glücklich war.

Jeden Morgen brachte dieser fröhlich singend das Frühstück, immer strahlend.

„Page, sag mir dein Geheimnis warum du so fröhlich bist!“

„Da gibt es kein Geheimnis. Es geht mir sehr gut. Ich darf euch dienen, habe Frau, Kinder, ein Haus.“

Der König wollte ihm nicht glauben, er drohte, wurde zornig.

Dann ließ er seinen weisen Berater kommen und erzählte vom Pagen.

„Majestät, er ist außerhalb des Kreises“, antwortete der kluge Mann.

Der König wollte alles über den Kreis wissen.

„Er war nie im Kreis der neunundneunzig. Erst wenn er eine Möglichkeit sieht, wird er eintreten. König, wenn er im Kreis ist, werden Sie einen treuen Diener verlieren. Sind Sie dazu bereit nur um den Kreis zu verstehen?“

Der König war bereit.

In der Nacht brachten sie einen Lederbeutel mit neunundneunzig Goldstücken zum Haus des Pagen. Daran war ein Zettel befestigt.

„Dieser Schatz gehört dir. Es ist die Belohnung dafür, dass du ein guter Mensch bist. Genieße ihn und sag niemandem, wie du an ihn gelangt bist.“

Durch ein Fenster sahen sie wie der fröhliche Mann den Beutel öffnete und die Münzen zählte.

Er zählte und zählte, es blieben genau neunundneunzig Goldstücke.

„Man hat mich betrogen, das ist Diebstahl!“, rief er zornig.

Er dachte angestrengt nach wie er zum fehlenden Goldstück kommen könnte.

Hundert Goldstücke würden ihn reich machen, ein gutes Leben wäre gesichert.

In ein paar Jahren, mit zusätzlicher Arbeit  von ihm und seiner Frau, weniger Essen, weniger Kleidung, könnte er die fehlende Münze verdienen.

Der Page war im Kreis der neunundneunzig angekommen!

Zwei Monate arbeitete er mehr und mehr, wurde immer grantiger.

Das fiel dem König auf und er entließ den mürrischen Pagen.

Wenn wir immer auf das fehlende Stück warten, kommen wir nie ins Genießen, zur Zufriedenheit.

Auch neunundneunzig können hundert Prozent sein!

„Wie viele Dinge würden sich ändern, wenn wir unsere Schätze so genießen könnten, wie sie sind.“

Gefunden in Starthilfe, Monika Kink

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